Die Texte der alten Meister des Zen lassen uns die spirituelle Dimension des Erwachens erahnen und weisen uns die Blickrichtung in die wir schauen müssen, um uns selbst zu entdecken.
Wir alle teilen die Erfahrung der Buddhas und Patriarchen, die seit Anbeginn der Zeit den Weg weitergaben. Das Erwachen selbst ist leer, ohne bleibende Substanz. Es ist weder entstanden noch vergangen.
Das Ego bleibt erhalten und tut es dennoch nicht. Alle Phänomene entspringen der einen Quelle. Die Leerheit allen Seins mit dem Körper zu erfahren, erzeugt das große Gefühl der Solidarität und des Mitgefühls.
Der Charakter des Menschen ist wie der Charakter des Feuers, das brennt, wie der des Wassers, das nass macht, wie der des Windes, der kühlt und wie der der Erde, die trägt. Doch verstehe, dass dies ohne die anderen Phänomene nicht möglich ist.
Ohne Holz könnte das Feuer nicht brennen. Ohne einen Gegenstand könnte das Wasser nicht nass machen, der Wind nicht kühlen und die Erde nicht tragen. Nichts in der Welt existiert ohne die anderen Phänomene.
Das bedeutet Ku, die Leerheit allen Seins. Alle Phänomene folgen dem Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit. So auch die fünf Sinne des Menschen, seine Gedanken, seine Emotionen, sein Körper, seine Wahrnehmung, sein Bewusstsein, sein Ego und der gesamte Kosmos.
Wer versucht dies nur mit dem Verstand zu erfassen, selbst wenn dies möglich zu sein scheint, wird scheitern und den Weg des Buddha niemals verwirklichen. Die Erfahrung der Buddhas ist das Fühlen und Verstehen mit dem Körper. Gleichwohl dem Körper und dem Bewusstsein aller Wesen.
Warum sonst waren die einzig richtigen Worte, die Buddha bei seinem Erwachen ausrufen konnte: „ Ich habe das Erwachen mit allen Wesen gemeinsam erlangt!“? Nicht allein für sich, sondern gemeinsam mit allen. Wer zu verstehen beginnt, weiß, dass sich das Verstehen in sich selbst auflöst.
Das Verstehen ist das „in-sich-selbst-auflösen“. Das Erwachen selbst ist leer und ohne Substanz. Es entsteht in wechselseitiger Abhängigkeit. Das große und unübertroffene Mantra beschreibt es auf direktem Weg. Es bleibt nichts als darüber hinaus zu gehen, mit allen gemeinsam darüber hinaus und noch jenseits des darüber hinaus an das Ufer des Satori.
Die Texte der alten Meister sind keine Poesie. Wer die Erfahrung aller Buddhas teilt, erkennt in einem Augenblick den wahren Wert der Worte. Er erkennt, dass die Texte wortwörtlich zu gebrauchen sind. So wie der Finger, der auf den Mond zeigt, nicht der Mond selbst ist, so zeigt er doch das zu Erblickende.
Wer dies tief realisieren und fühlen und alles Leiden abschneiden möchte, der praktiziere Zazen im sitzen und im stehen, in allen Tätigkeiten des Alltags. Wisse was es heißt, auf dem tiefen Grund des Nicht-Denkens zu denken und einen Geist zu besitzen der auf nichts verweilt, ohne Gewinnstreben noch Erwartung.
Wirklich sitzen wenn du sitzt, wirklich stehen wenn du stehst und wirklich gehen wenn du gehst ist das wahre Zen. Die Dinge nur tun der Dinge wegen, ohne Erwartung und ohne Zielstreben. Das sind die beiden großen Prinzipien des Zen: Hishiryo und Mushotoku!
Erkenne das Große im Kleinen. Erkenne das Kleine im Großen. Wo ist da ein Unterschied? Die beiden Ebenen der relativen Wirklichkeit und der letzten Wirklichkeit durchdringen einander, wie zwei Farben die gemischt werden. Doch sind die Farben lediglich Blickwinkel auf ein und dieselbe Wahrheit.
Alle teilen dies ohne es zu wissen seit Anbeginn der Zeit und bis ans Ende aller Zeiten mit allen Wesen in diesem Augenblich jetzt. Wer Satori realisiert, erkennt in einem Augenblick, dass es gar nicht anders möglich ist.
Ich teile mit Dir, was nicht zu teilen ist. Da es alles umfasst, ist es nicht zu teilen. Doch wer versteht, dass es nicht geteilt werden kann, der fängt an es mit allen Wesen zu teilen.
Geschrieben nach dem Frühjahrslager 2011
Grube Louise, Westerwald
Der Geschmack des Schattens einer Pflaume
Der Erfahrung der höchsten Wahrheit anzuhaften oder die Identifikation mit der durchschauten Täuschung aufrecht zu halten, beides führt zu Illusion und Leiden.
Das Messer kann sich selbst nicht schneiden und die Waage sich selbst nicht wiegen. Doch die Augen können sich selbst in einem Spiegel sehen und erkennen.
Ryokan schrieb keine Gedichte, Dogen kam von China nie zurück. Geleitet durch
das Unbeschreibare, geht jedes Phänomen seinen eigenen Weg.
Die Pflaume ist vom Baum gefallen, da sie schon lange reif war. Aber die Verbundenheit mit den Wurzeln bleibt bestehen.
Der Fluss des Lebens verzweigt sich in viele Nebenflüsse bis er ins Meer fließt. Aber die reine Quelle strömt im ewigen Augenblick.
Kehre zurück zur Quelle und lass Dich nicht von Bächen und Tümpeln in die Irre führen. Bedenke die Wurzel, wenn im Herbst die Blätter von den Zweigen fallen.
Wenn auch nur einer unter Tausend die Tiefe hinter den Worten versteht, sind die Verdienste unermesslich. Wenn sich nur einer befreit, sind alle Wesen frei.
Geschrieben im Juni 2013
Grüner Weg in Hohenahr
Niemals war die Welle nicht das Meer
Welche Worte ich auch verwende,
sie sind lediglich wie Süßigkeiten,
mit denen man Kinder anlockt.
Wie der Finger der zum Mond deutet,
nicht der Mond sein kann,
so sind Worte niemals die Sache.
Manche mögen mich verachten,
ungehörig und vorlaut wie ich bin,
anmaßend und scheinheilig.
Doch was ich bin hat keine Form,
hat keine Größe oder Geschlecht,
ist weder dieses noch jenes.
Wer glaubt es erreichen zu können,
ist wie ein Fisch an Land,
der an der Angel zappelt.
Wer sagt es sei nicht erreichbar,
ist wie ein Blinder unter Blinden,
nicht fähig zu sehen.
Wer sagt es kann erreicht
und nicht erreicht werden,
ist wie ein zu stark gespannter Bogen.
Wer sagt es kann weder erreicht
noch nicht erreicht werden,
ist wie ein gebrochener Pfeil.
Sieh in den Spiegel und
erkenne jetzt ist es Du
aber Du bist nicht es.
Es erreichen ohne zu erreichen,
ist wie eine mächtige Welle,
die zurückkehrt ins Meer.
Niemals war die Welle nicht das Meer.
Geschrieben im Juni 2017
Grüner Weg in Hohenahr
Die Blume sein, statt dem Duft anzuhaften
Die Worte Buddhas ehren
ohne daran zu haften,
bedeutet den Buddha in Dir
zur Blüte zu bringen.
Wie ein Boot nur Sinn macht
um ans andere Ufer zu gelangen,
so sollten wir die Worte
nicht mit uns herum tragen.
Nie gab es so viele Lehrer
wie in der heutigen Zeit,
doch viele verunreinigen
den Geist Buddhas.
So wie die Nebenflüsse
durchtränkt sind von Schlamm
und die Reinheit der Quelle
für immer eingebüßt haben.
So wird das Gerüst der Lehre
gepredigt, statt die Leere selbst.
Wird das Wort geheiligt,
statt das was Buddha ist.
Erwache aus dem Traum
des Denkers und Handelnden.
Erkenne Dich selbst als
den einen Buddha-Geist.
Alle gedanklichen Konzepte,
auch Körper und Geist,
fallen in einem Augenblick ab
und es gibt kein zurück.
Auch wenn Du das Dharma
studiert und durchdrungen,
die Worte der Meister gelesen
und Erleuchtung erlangt hast.
Bist Du doch nur wie einer,
der den formlosen Raum betritt
um darin zu verweilen, unfähig
zu sehen, dass Du der Raum bist.
Diese Lehrer verwechseln
den Duft der Blume mit
der Blume selbst und
irren zwischen richtig und falsch.
Aus Angst vor dem wahren Drachen
betasten sie den Elefanten und
geben weiter, was sie glauben
erkannt zu haben.
Solange Du nicht völlig frei bist
auf der Wiese des Samsara
mit den Buddhas zu spielen
wie mit kleinen Kindern.
Solange wirst Du toten Lehren
hinterherrennen und an
ihnen haften, aus Angst alles
restlos aufzugeben.
Wenn wir aber die Welt mit
den Augen Buddhas sehen
die Leere durchdringen und
wieder werden wie die Kinder.
Können wir Buddhas und Meister
ehren ohne an Ihnen zu haften.
Wir lassen leben geschehen
von Augenblick zu Augenblick.
Im Klaren Erkennen liegt
weder gut noch schlecht.
Es liegt an Dir das torlose Tor
zu durchdringen.
Mein lieber geschätzter Freund,
ehre die Worte Buddhas aber
Klammer Dich nicht an sie.
Erwecke den Buddha in Dir.
Geschrieben im Mai 2018
Grüner Weg in Hohenahr
Der Weise genießt den Augenblick
Kein Weg, kein Gehender,
keine Bewegung –
Im ewigen Augenblick.
Wie feine Süßigkeiten
mit denen man Kinder lockt –
So handeln die Weisen.
Nichts zu erreichen
was nicht schon jetzt da ist –
Das was Du bist.
So wie Feuer nicht brennt
und Wasser nicht nass wird –
kannst Du es nicht werden.
Der Gehende braucht den Weg
und die Bewegung –
Der Weise genießt den Augenblick.
Geschrieben im Mai 2018
Grüner Weg in Hohenahr
Die Wahrheit des Seins
Auch wenn Worte nur wie der Finger sind, der zum Mond weist und nicht der Mond selbst ist, so weist der Finger doch die Blickrichtung. Mein lieber Freund, um das wahre Selbst zu ergründen versuche diesen Fingerzeig:
Erkenntnis beginnt mit der Einsicht, dass alles Wahrnehmbare leer ist von aus sich selbst heraus existierendem Sein, nur durch wechselseitige Abhängigkeit entstehend und dadurch unbeständig, leidvoll und ohne festes Selbst.
So beginnt die Suche nach dem, was unabhängig von Bedingungen, aus sich selbst heraus existierend und frei von Leiden in all seinen Ausprägungen ist. Das, was
immerwährendes unbeschreibliches Sosein ist.
Die Identifikation mit Körper und Geist ist Verblendung. Identifikation mit Gier und Hass verdeckt die Wahrheit, wie Wolken den Mond. Doch auch der Mond scheint nur
durch die Kraft der strahlenden Sonne.
Werden Gier und Hass als Wolken am Himmel erkannt, die vorüberziehen ohne den Himmel zu berühren, kann Erkenntnis geschehen, dass das immerwährende Licht
deines Gewahrseins nie aufgehört hat zu strahlen.
Daher übe im Sitzen wie im Gehen, im Liegen wie im Stehen, in jedem Augenblick das mühelose Gewahrsein. Es bedarf keiner Anstrengung den übenden Erweis zu
erbringen, um in einem Augenblick zu erkennen:
Ich bin mir der Lebendigkeit dieses Körpers bewusst, doch tue ich nichts, damit hier und jetzt das Herz schlägt, der Magen verdaut und Organe zusammen wirken. Dies
bewusst wahrnehmend erkenne ich: ich bin mehr als der Körper.
Ich bin mir der Sinneswahrnehmung bewusst, doch tue ich nichts, damit hier und jetzt sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen geschehen kann. Dies bewusst wahrnehmend erkenne ich: ich bin mehr als die Sinneswahrnehmung.
Ich bin mir der Gefühle und Emotionen bewusst, doch tue ich nichts, damit hier und jetzt angenehme, unangenehme oder neutrale Gefühle entstehen. Dies bewusst wahrnehmend erkenne ich: ich bin mehr als Gefühle und Emotionen.
Ich bin mir der Gedankentätigkeit des Verstandes bewusst, doch tue ich nichts, damit hier und jetzt Gedanken wie Wellen auf dem Meer kommen und gehen. Dies bewusst wahrnehmend erkenne ich: ich bin mehr als Gedanken.
Ich bin mir des persönlichen Bewusstseins bewusst, doch tue ich nichts, damit hier und jetzt persönliches Bewusstsein in Form von „Ich“ geschieht. Dies bewusst wahrnehmend erkenne ich: ich bin mehr als das persönliche Bewusstsein.
Alles was wahrgenommen werden kann ist nicht das, was wahrnimmt. Ich nehme den Körper wahr, bin daher jenseits des Körpers. Nehme die Sinne, Gefühle, Gedanken und Bewusstsein wahr, bin daher jenseits von all dem.
Die alten Traditionen sagen: Das, was da sieht, ist der eine Geist – formloser Raum, das Ungeborene, ist Buddha oder Gott, ist Quelle und Ursprung, ist jenseits des Denkens, nicht begrenzt durch Zeit und Raum und frei jeglicher Beschreibung.
Es ist das Gefühl von „Ich bin“, das in jedem Augenblick das Selbe ist. Jetzt und vor einem Jahr ist dieses Empfinden nicht verschieden, hingegen unterliegen alle Objekte, die dieses „Ich bin“ wahrnimmt, dem stetigen Wandel.
Über alles Wahrnehmbare hinaus gehend und noch jenseits des Darüber-Hinaus, geschieht wahre und befreiende Erkenntnis im letztendlichen Nicht-Erkennen. So wie sich ein Auge nicht selbst sehen oder eine Hand nicht selbst ergreifen kann.
Das was letztendlich wahrnimmt ist müheloses Gewahrsein, denn es bedarf keiner Mühe den Körper zu spüren, Laute zu hören oder Dinge zu sehen, noch der Wahrnehmung von Gefühlen, Gedanken oder Bewusstsein.
Doch so wie Buddha einst sagte: „Der Fuß kann den Fuß nur spüren, wenn er den Boden berührt“, so kann sich diese Quelle nur durch die Identifikation mit diesem
Körper und Geist erfahren.
Erkennt sich das Selbst durch sich selbst ist es völlig klar: Dieser Körper und Geist sind heilig, sind Buddha selbst und jede Handlung ist Ausdruck und innerhalb von dem, was ich bin.
Unsere Praxis wird zum Tun des Nicht-Tuns, des Geschehen lassen könnens, so dass sich Leben harmonisch entfaltet. Wir handeln gemäß den Umständen und, getragen durch Mitgefühl und Weisheit, sorgen wir für uns und alle Wesen.
Dank der gemeinschaftlichen Praxis aktualisiert sich dieses Erkennen und lässt Befreiung erfahren. Doch ist diese Erfahrung nur der Duft, nicht seine Quelle, ist
Ausdruck der Befreiung von der Sklaverei des Verstandes.
Klammerst du dich jedoch an Übung und Wissen, wie könntest du das verstehen, was jenseits von Übung und Wissen ist? Hängst du an äußeren Strukturen und
Konzepten, wie könntest du je die Essenz erfassen?
Verstehst du diese Wahrheit, dann verweile bei diesem Verstehen. Verstehst du es nicht, dann verweile bei diesem Nicht-Verstehen. Erkenne einfach, dass du jenseits von Verstehen und Nicht-Verstehen bist.
Wir können nicht werden was wir bereits sind, noch können wir es verlieren oder vermehren. Wir können es nur sein und so wird jeder Augenblick zu einer Einladung des Erwachens zur Wahrheit des Seins.
Geschrieben im Januar 2021
Sonnenhof Ottrau