Thorsten: Ein Punkt ging mir heute morgen noch einmal durch den Kopf und zwar deine Frage, warum es nicht möglich ist, sich auch im Alltag oder im Gespräch mit einem Gegenüber "in den Beobachter zurück zu ziehen". War das eine Fangfrage oder erlebst du es wirklich so?
In meinem einseitigen Verständnis ist dieser "Beobachter", oder besser gesagt diese "Beobachtung" die einzige Konstante in all dem Kommen und Gehen. Aber wer soll sich dahin zurück ziehen, wenn er bereits da ist? Wie sollten wir werden, was wir bereits sind?
Muho: Meinerseits waren da keine Fangfragen. Mich interessiert die Frage, warum da ueberhaupt Bewusstseine (Plural) im Universum sind, und warum ich mir eines und nur eines von diesen unzaehilgen Bewusstseinen auch tatsaechlich bewusst bin (d.h. warum ich DIESES eine, im Gegensatz zu den vielen anderen, nicht nur vorstelle, es auch nicht einfach "habe" sondern BIN), schon seit laengerem. Verbunden zB mit der Frage, ob wir einen freien Willen haben. Hirnforschung legt genauso wie die buddhistische Lehre von der Ego-Illusion nahe, dass es so etwas nicht gibt. Und beim Zazen kann man ja - wie du gesagt hast - schoen beobachten, wie die Gedanken von selbst kommen und gehen. Aber wer ist dieser Beobachter? Wenn ich beim Zazen zB darauf verzichte, "in den Fluss zu springen" und die Gedanken ihr Spiel spielen lasse, die Schmerzen einfach so lasse wie sie sind, was aendert sich da? Wer "macht" diese Entscheidung, nicht in den Fluss zu springen? Aber tatsaechlich ist es meglich, sich beim Zazen so hinzusetzen und der "Wirklichkeit" beizuwohnen als wuerde man unbeiteiligt einem Film zugucken.
Und wie gesagt, wenn ich ein Gespraech fuehre, oder diese Zeilen schreibe, kann ich das nicht auf dieselbe Weise. Zumindest ein Teil von mir muss "mitmachen". In diesem Augenblick gucke ich dem Muho nicht einfach ueber die Schulter und bin gespannt, was er da wohl so schreiben wird. Es geht nicht so wie mit dem Atem (oder auch den Gedanken), den ich mir bewusst machen kann ohne ihn zu "machen" - der aber auch seine Arbeit macht, wenn ich sozusagen "nicht dabei bin". Es geht schon gar nicht so wie mit der Verdauung, die ich mir noch nicht einmal bewusst machen kann wenn ich es wollte. Ich koennte diese Zeilen nicht unbewusst schreiben, sie schreiben sich nicht von selbst. Warum? Es gibt manchmal seltene Momente, wo sich ein Lied, ein Gedicht etc tatsaechlich fast wie von selbst schreibt, aber bei einem laengeren Text habe ich das nie erlebt und wie gesagt, selbst wenn es passiert, muss aus irgendeinem Grund Bewusstsein "dabei sein". Ich wache nicht morgens auf und da liegt ein fertiges Manuskript auf dem Nachtisch. Warum eigentlich nicht, wenn ich doch auch im Schlaf atme?
Thorsten: Zunächst möchte ich mich für deine Offenheit und Ehrlichkeit bedanken, die Fragen aus deiner E-Mail an mich zu richten. Ich, die Person Thorsten Schäffer, halte mich nicht für so etwas wie einen Erleuchteten oder Erwachten. Wer mir nicht glaubt, soll mich mal eine Woche besuchen kommen und mich im Alltag mit meiner Familie und meinen Kids erleben. Ich bin kein bisschen heilig oder besonders. Dennoch habe ich etwas für mich erkannt, dass meine Suche nach Wahrheit gestillt hat. Du fragst, warum es verschiedene Bewussstseine gibt.
Wenn eine solche Frage in diesem Bewusstsein hier, also im Bewusstsein Thorsten Schäffer, auftaucht, stellt sich sofort die Frage: "Wer hat diese Frage? Ist es der Ego-Verstand oder das was ich bin?" Die Antwort liegt auf der Hand, ist erfahrbar und fühlbar. Das Verständnis ist durchdringend. Und so kann diese Frage zu einer Einladung werden, aus dem Traum des Verstandes "aufzuwachen". Frag dich selbst: Kann das Bewusstsein, von dem du sagst, dass du "es dir nicht vorstellst, es auch nicht "hast", sondern es BIST" wahrgenommen werden? Das Bewusstsein von dem du hier sprichst, verändert es sich? Genau das war für mich der Schlüssel. Ich kann nicht sein, was ICH wahrnehmen kann, auch wenn es noch so subtil wie das persönliche Bewusstsein ist. In diesem Verständnis mag es zwar viele persönliche Bewusstseine geben, aber das, was sich selbst des persönlichen Bewusstseins bewusst ist (oder gewahr ist) ist nicht getrennt.
In meinem Verständnis kann es keinen freien Willen geben, da dieser, um wirklich frei zu sein, aus sich selbst heraus existieren müsste. Doch jede Entscheidung hat Ursachen, nicht wahr? Es mag sich so anfühlen, als hätte ich die Entscheidung das Interview mit dir zu machen mit dem Bauchgefühl entschieden und hätte mich scheinbar auch dagegen entscheiden können, aber das ist bei genauerer Betrachtung nicht wahr. Die Bauchgefühl-Übung ist für Menschen, die noch nicht gelernt haben dem Leben zu vertrauen und sich einfach ins Leben selbst hinein fallen zu lassen. Aus diesem Grund habe ich sie vermutlich im Interview angesprochen. In Wahrheit hatte diese Entscheidung keinen Entscheider zur Grundlage. Mit dieser Erkenntnis ist eine riesige Last von den Schultern gefallen, die Last des Schuld habens, des Nicht gut genug seins, des irgendwie besser sein müssens, etwas zu sein oder erreichen zu müssen etc. Die Idee des freien Willens aufzugeben, macht wirklich frei.
Aber wer ist dieser Beobachter? Dieser Beobachter, die letzte Instanz von Beobachtung, die Quelle aller Wahrnehmung kann nicht erfasst werden. Doch es kann Erkenntnis geschehen, dass es nicht anders sein kann, als das wir DAS sind. Die Erkenntnis, dass DAS nicht erkannt werden kann, weil alles Erkennen davon ausgeht, war für mich das, was ich Befreiung nenne. Leben geschehen lassen zu können im freien Fall. Einfach ganz Mensch sein mit all unseren Schwächen und Verrücktheiten, mit all unseren Stärken und unserem Mitgefühl. Einfach vollständig Mensch sein.
Wer stellt sich die Frage, wer dieser Beobachter ist? Ist es der Beobachter selbst oder einmal mehr der Ego-Verstand?
Kann dieses "nicht in den Fluss springen" wahrgenommen werden? Natürlich! Sonst könntest du nicht darüber berichten oder mir davon erzählen. Bist du die Erfahrung "nicht in den Fluss springen" oder das, was selbst diese Erfahrung wahrnimmt? In meinem aktuellen Verständnis (und das mag sich irgendwann ändern) geschieht Leben von Augenblick zu Augenblick für niemanden. Scheinbar ist alles ein großes mehrdimensionales Netzt aus Ursache und Wirkung (KU) und innerhalb dieses Netzes geschieht "Entscheidung, nicht in den Fluss zu springen". Scheinbar, da das Konzept von Ursache und Wirkung das Konzept von Zeit voraussetzt.
Es wird wahrgenommen, dass ein Teil von dir scheinbar "mitmachen" muss. Diese Erfahrung ist doch bereits die Einladung! Ich habe den Eindruck, dass du immer vom persönliches Bewusstsein sprichst. Doch selbst das kann wahrgenommen werden. Das Gewahrsein von dem ich spreche, hat kein persönliches Interesse daran, was hier geschieht oder nicht geschieht. Also nicht in dem Sinne "Jetzt schaue ich dem Muho mal über die Schulter". ES "sieht" einfach.
Ich habe das Gefühl mich hier weit aus dem Fenster zu lehnen, denn du bist doch der Zen-Meister und nicht ich. Aber mein subjektiver Eindruck bei diesem letzten Absatz ist, dass du eine Idee, ein Bild, ein Konzept im Kopf hast, wie es sich anfühlen müsste wenn...
Verzeih mir, wenn ich zu direkt bin oder in der gesamten E-Mail großspurig daher komme. Ich die Person, habe im Alltag genauso meine Schwierigkeiten und Probleme wie jeder andere auch. Ich muss Rechnungen zahlen, meine Kinder erziehen, bin manchmal wütend oder traurig etc. Es hat sich für die Person durch diese Erkenntnis rein gar nichts verändert. Verrückt, oder? Und doch ist die Suche völlig abgefallen, das "Heimweh", das Gefühl, dass etwas verstanden werden muss...
Natürlich ist hier ein persönliches Bewusstsein aktiv, während diese Zeilen geschrieben werden. Doch selbst das Bewegen der Finger auf der Tastatur geschieht, ohne dass ich mich großartig darauf konzentrieren müsste oder das Gefühl da ist, das zu machen. Es geschieht einfach, dass Gedanken durch die Finger ausgedrückt werden. Gleichzeitig aber wird dieses persönliche Bewusstsein wahrgenommen. Und in dem Augenblick, wenn sich das persönliche Bewusstsein darüber bewusst wird, dass es wahrgenommen wird, geschieht sofort ein Gefühl von Weite, von stiller Freude und Zufriedenheit. Alles, wonach ich immer gesucht habe, ist bereits hier.
Ich glaube Zazen, in Form des Shikantaza, ist eine wundervolle Übung, um Erkenntnis geschehen zu lassen. Doch wenn sich die Quelle aller Wahrnehmung wieder mit dem Fluss der Gedanken identifiziert, wir also das Gefühl haben "Ich habe gerade diesen `metaphysischen-Fragen-Gedanken` gedacht. Ich denke. Ich bin der Handelnde...", dann wird´s wieder kompliziert.
Aber ganz ehrlich: Mittlerweile zerstreue ich mich im Alltag auch gerne, lasse mich völlig hinein fallen in die Identifikation. Da ist keine Suche mehr nach irgendwas Spirituellem. Jeder Augenblick kann eine Einladung sein aus der Identifikation "aufzuwachen". Als ich heute morgen meinen Kaffee trank und die bittere Flüssigkeiten meine Zunge berührte und diese die Informationen an das Gehirn weitergab, war das in diesem Augenblick die heiligste Handlung, die ich mir vorstellen konnte.
Und nun bin ich gespannt auf deine Reaktion auf diese Zeilen und freue mich auf deine Nachricht.
Muho: Das Buch habe ich noch nicht komplett gelesen, aber Du schreibst da zB zum freien Willen: "In dem Augenblick, wenn scheinbare Befreiung geschieht und die Vorstellung einer aus sich selbst heraus existierenden Person mit einem freien Willen völlig aufgegeben wird, können wir das Leben geschehen lassen und uns an der scheinbaren Dramatik und Tragödie erfreuen. Es verwirklicht sich die Wahrheit des Seins, inmitten der scheinbar leidvollen Wirklichkeit des Augenblicks."
Es gibt da in der philosophischen Diskussionen dieses Gedankenexperiment, dass dir einer auf der Strasse auf den Fuss tritt. Wie wuerdest du reagieren? Oder sagen wir einmal, wie wuerde ein gewoehnlicher Mensch reagieren, und wie wuerde ein erleuchteter Zenmeister reagieren?
Ich glaube, dass die Reaktionen eines gewoehnlichen Menschen, inklusive meiner selbst, z.B. davon abhaengt, wer das ist, der mir da auf den Fuss tritt: (a) Ein zweijaehriges Kind, das gerade gelernt hat zu laufen? (b) Jemand, der vielleicht unter einer geistigen Behinderung leidet und den ich deshalb fuer nicht ganz zurechnungsfaehig halte? (c) Jemand, der von einem anderen geschubst wurde und sein Gleichgewicht verloren hat? (d) Jemand, der in Gedanken verloren einfach nicht aufgapsst hat und "aus Versehen" mir auf den Fuss getreten ist? (e) Oder jemand, der aus welchem Grund auch immer mir mit "voller Absicht" auf den Fuss tritt?
In den ersten drei Faellen (a) (b) (c) wird es auch einem gewoehnlichen Menschen relativ leicht fallen, das, was sich da verwirklicht, einfach geschehen zu lassen. Im Fall (c) wuerde man sich vielleicht ueber den aergern, der geschubst hat, aber nicht ueber den Menschen, der einem tatsaechlich auf den Fuss tritt. Anders ist es im Fall (d) ("Warum passt du nicht besser auf!?") und (e) ("Was soll das? Was habe ich dir getan? Ich verlange entweder eine Entschuldigung oder eine gute Erklaerung fuer dein Verhalten (und wenn du mir die gibst, bin ich gerne bereit, mich gegebenfalls bei dir zu entschuldigen)!")
Glaubst, dass es aus der Perspektive eines erleuchteten Zenmeisters in jedem dieser Faelle so aussieht, als ob sich da einfach die "Wahrheit des Seins, inmitten der scheinbar leidvollen Wirklichkeit des Augenblicks, verwirklicht" und der, der geschubst wird, genauso wenig Verantwortung traegt wie der, der aus Unaufmerksamkeit auf meinen Fuss tritt oder der, der das sogar "aus Absicht tut".
Ist diese vermeintliche "Absicht", da sie ja in keinem freien Willen wurzelt, im Grunde dasselbe wie ein "inneres Geschubstwerden"? Und wenn der, der nicht aufgepasst hat, gar keine andere Wahl hatte als nicht aufzupassen - ist es dann nicht ein Widerspruch, wenn man beim Zen und anderswo die Teilnehmer einlaedt, loszulassen, ins Hier-und-Jetzt zurueckzukehren, dem Atem zu folgen, das Leben anzunehmen etc. Sollte man nicht konsequenter Weise sagen: "Lebt euer Leben weiter wie zuvor, dann in Wirklichkeit wart ihr es ja gar nicht, die das Leben gelebt haben, sondern die Wirklichkeit des Seins drueckt sich in eurem Leben aus, ob ihr es glaubt oder nicht.
Einige von euch haben versucht, ihr Leben mit Gewalt zu aendern, es in die Hand zu nehmen und zu "fuehren" - weiter so, denn dieses scheinbar gewaltsame "Machen" ist auch nichts anderes als die Verwirklichung des Seins jenseits der Person. Andere von euch haben versucht sich vor dem Leben zu verstecken, die Augen zuzudruecken vor der Realitaet in diesem Augenblick. Auch gut - denn in Wirklichkeit wart es ja nicht ihr, die da die Augen zugedrueckt haben. Das Sein selbst hat sich in eurer erfolglosen Flucht vor dem Leben ausgedrueckt. Kein Grund loszulassen und anzunehmen - erlaubt dem Leben, weiterhin Kampf und Flucht mit sich selbst zu spielen!"
Oder Kinder-Erziehung: Wenn man kein absoluter Anti-Autoritaerer ist, wird man ja auch nicht einfach zugucken, wie sich in den Kindern die "Wirklichkeit des Seins" entfaltet, sondern auch einmal sagen: "Also, es gibt hier zwei Moeglichkeiten: Entweder du machst zuerst die Hausaufgaben und spielst dann, oder du spielst gleich und machst die Hausaufgaben spaeter, oder gar nicht. Aber dafuer wird dich der Lehrer morgen in der Schule anmotzen!" Und nicht: "Darueber, ob du jetzt Hausaufgaben machen willst oder mit dem Handy spielen willst, musst du dir gar keine Gedanken machen. Denn die Entscheidung hat das Sein selbst schon laengst getroffen, und du kannst nichts tun ausser das Sein so zu leben und erleben, wie es sich von Moment zu Moment in dir verwirklicht. Und wenn dich der Lehrer morgen anmotzt, dann erfreue dich einfach an der scheinbaren Dramatik und Tragödie. Es verwirklicht sich einmal wieder die Wahrheit des Seins, inmitten der scheinbar leidvollen Wirklichkeit des Augenblicks!"
Thorsten: Ich glaube ja noch immer, dass du mich nur foppst oder testen willst... aber gut, ich spiele mit.
Ich glaube nicht einmal, dass es so etwas wie erleuchtete Zen-Meister gibt. Außer in dem Bild der Lampe und dem Objekt, dass ich beim Interview gebracht habe, gibt es in meinem aktuellen Verständnis überhaupt keine erleuchteten oder erwachten Personen. In meinem momentanen Verständnis erwachen wir nicht als Person, sondern von der Person - von der Idee, dieses Körper-Geist-System zu sein.
Das was erwacht, war schon immer wach ohne sich dessen bewusst zu sein. Das was nach erwachen sucht, kann niemals erwachen, außer in der Form, dass ein Erkennen geschehen kann, dass das, was sagt "Ich bin" nicht das "Ich bin dieser Körper" ist oder sein muss.
Ich denke wir können erst wirklich loslassen (das Leben annehmen), wenn Erkenntnis geschieht, dass es rein gar nichts zum festhalten gibt. Wir sind immer im Hier-und-Jetzt. Selbst wenn wir mit den Gedanken im gestern oder morgen sind, geschieht dieses Denken immer im Hier-und-Jetzt. Das Konzept, dass wir etwas tun müssten, um in das so genannte Hier-und-Jetzt zu kommen, halte ich für ein Missverständnis in vielen spirituellen Wegen, genauso wie das Konzept beim Meditieren die Gedanken anhalten zu müssen.
In meinem Verständnis ist da kein Jemand, der entscheiden könnte etwas konsequenter Weise so zu sagen oder nicht zu sagen. Da ist kein Jemand als ein aus sich selbst heraus Handelnder. Da ist nur Leben das von Augenblick zu Augenblick geschieht, bedingt durch die wechselseitige Abhängigkeit die alles durchdringt und im Grunde ein großes Ganzes ist (Ku).
Auf der anderen Seite, und aus diesem Grund praktiziere ich Zen und gebe es weiter, ist die Erziehung zu einem ethischen Miteinander, das heißt die Gebote, die Paramita etc. sinnvoll (Shiki). Aber ich habe mich nicht dazu entschlossen, die Gebote als sinnvoll zu erachten. So viele Ursachen haben dazu beigetragen, dass ich jetzt hier sitze und diese Zeilen an dich schreibe. So unglaublich viele Ursachen, die wiederum ursächlich bedingt waren, dass ich letztendlich sagen muss, dass das gesamte Universum an dieser E-Mail beteiligt ist.
Und in diesem Verständnis, gibt es niemanden, der aus sich selbst heraus entscheiden könnte, etwas auf irgendeine bestimmte Weise zu sagen oder nicht zu sagen. Es geschieht einfach. So wie Denken ohne einen Denker geschieht (wir können das während Zazen erkennen), geschieht auch Handeln ohne einen Handelnden selbst wenn es sich außerhalb von Zazen anders anfühlen mag.
Wenn diese Wahrnehmung tatsächlich die größte Illusion sein sollte, die der Verstand einem vorspielen kann, dann weck mich auf. Zertrümmere diese Idee, wenn sie nicht der Wahrheit entspricht.
Es vergeht seit über 6 Jahren kein Tag, an dem ich diese Wahrnehmung nicht hinterfrage. Vor allem in schwierigen Situationen, wenn ich mal Wut über das Verhalten der Kinder empfinde oder Traurigkeit spüre, wenn ich von den Dingen höre, die sich Menschen auf diesem Planeten in diesem Augenblick gegenseitig antun. Aber auch während Zazen oder auf einem Sesshin. Ich habe bisher niemanden gefunden, der mir diese Erkenntnis bestätigen oder sie zertrümmern kann.
Wie gesagt, da ist niemand, der das entscheidet. Aber Entscheidung geschieht. Genauso wie Handeln, Lebendigkeit des Körpers, das Wachsen eines Baumes, das sich bilden von Regenwolken, und das Regnen der Tropfen ins Meer...
Der Dalai Lama hat mal gesagt: "Du kannst die Tat verurteilen, aber niemals den Täter." Was hat er aus deiner Sicht mit diesen Worten gemeint?
Muho: Nein, ich will dich nicht foppen. Danke, dass du dir trotzdem die Zeit fuer deine Antworten nimmst, die vollkommen Sinn machen - von einer absoluten Perspektive aus. Mir geht es natuerlich nicht um die absolute Wahrheit, die Wirklichkeit des Seins oder was auch immer, sondern darum, wie ich - ob erleuchtet oder nicht - dass taegliche Leben lebe.
Der Dalai Lama hat mal gesagt: "Du kannst die Tat verurteilen, aber niemals den Täter." Was hat er aus deiner Sicht mit diesen Worten gemeint?
Von wem stammen diese Worte? Gibt es da ein Sprecher, oder spricht da die Wirklichkeit des Seins wie ein Bauchredner durch den Mund des Dalai Lama? Stellst du diese Frage an mich, oder sind wir beide nur Puppen auf dem Schoss des Seins?
Und an wen sind diese Worte gerichtet? Glaubt der Sprecher, dass es irgendwo "da draussen" einen Hoerer gibt, der diese Worte verstehen kann? Oder fuehrt die Wirklichkeit des Seins ein Selbstgespraech? Auf was bezieht sich das "er" in der Frage? Was ist mit "gemeint" gemeint? Muss man nicht, um ueberhaupt etwas ernsthaft meinen zu koennen, die "absolute" Ebene verlassen? Welchen Sinn hat es dann noch, im naechsten Moment so zu tun als befaende man sich doch noch irgendwie auf dieser absoluten Ebene und es gaebe weder Sprecher noch Hoerer (noch Worte und Sinn)?
Mit welcher Absicht werden diese Worte (und deine anschliessende Frage) gesprochen? Gibt es da in Wirklichkeit doch gar keine Absicht? Oder hoffen der Dalai Lama und du wirklich, mit diesen Worten den Hoerer einladen zu koennen, nicht den Taeter sondern die Tat zu verurteilen? Aber wie kann der Hoerer diese Einladung annehmen ohne dadurch zum Mit-Taeter (des "Nicht-Verurteilens") zu werden? Willst du mit deiner Frage mir einen Anstubser geben? Aber wer stubst da wen an und warum?
Thorsten: Vielen Dank für das Teilen von Brads Antwort bezogen auf die Fragen nach dem freien Willen. Ja, die Aussage "We can never know if there is free will or not, but we have to act as if there is free will." macht Sinn. Ich glaube am Ende des Buches, letztes oder vorletztes Kapitel, von "Wahrheit des Seins" schrieb ich etwas ähnliches:
Wir können so tun, als würden wir Entscheidungen treffen in der Gewissheit, dass sich die Wahrheit des Seins, als unpersonifiziertes Prinzip des wechselseitigen Entstehens und Vergehens aller Dinge, von allein entfaltet. Wir können eine Familie gründen, ein Haus bauen, ein Buch schreiben. Mach was immer du willst. Im Augenblick des Tuns, ist es immer richtig. (oder so ähnlich)
Hast du mal Texte von dem Massenmörder Manson gelesen? Ich selbst habe das nicht, aber ein Bekannter hat mir die ein oder andere Aussage gezeigt und sie ähneln sehr den Aussagen des Zen und der Mystik bezogen auf das Thema "Anatta" oder "Nicht-Selbst". Vielleicht ist das der Grund, warum im Buddhismus und auch im Zen die Weitergabe der Gebote bei der Ordination, die Leitlinien der Paramita etc. als sehr wichtig erachtet werden. Die Wertschätzung der Gebote wird auf gleiche Weise wie das Empfangen des Kesa zelebriert. Bevor das Konstrukt der Person durchschaut wird, sollte eine ethische Grundlage oder Prägung erzeugt werden, die die Person, auch und gerade nachdem Erkenntnis geschehen ist, beeinflusst. Selbst nachdem Erkenntnis geschehen ist, "funktioniert" die Person dann innerhalb dieser Konditionierungen und Prägungen.
Beim Lesen deiner Nachrichten ging mir ein Zitat von Rinzai durch den Kopf, dass auf einem Lesezeichen von Mumon-Kai Verlag steht: "Nichts ist erstrebenswerter, als ein Mensch zu werden, der nichts weiter zu suchen braucht. Gebt euch nicht irgendwelchen Gedankenspielen hin, bleibt einfach ihr selbst. … Was ihr Buddha nennt, das ist Euer Herz in vollkommener Reinheit, Euer Bewusstsein vor dem Denken."
Wow, deine Antwort auf meine Frage nach der Aussage des Dalai Lama ist wie ein Maschinengewehr von Gegenfragen. Darf ich mir eine aussuchen?
Du schreibst: „Muss man nicht, um ueberhaupt etwas ernsthaft meinen zu koennen, die "absolute" Ebene verlassen? Welchen Sinn hat es dann noch, im naechsten Moment so zu tun als befaende man sich doch noch irgendwie auf dieser absoluten Ebene und es gaebe weder Sprecher noch Hoerer (noch Worte und Sinn)?“
Müssen die Wolken, um regnen zu können, den Himmel verlassen?
Kann der Mond entscheiden sich nicht länger von der Sonne anstrahlen zu lassen, um stattdessen aus sich selbst heraus zu scheinen?
Ich, die Person Thorsten Schäffer, scheine Entscheidungen zu treffen, eine Meinung zu haben, Absichten zu verfolgen, in Interaktion mit dir oder jemand anderem eine Meinung zu vertreten oder aus mir selbst heraus so etwas wie "Verstehen" realisiert zu haben. Aber ganz offensichtlich ist das nicht korrekt und entspricht nicht der Erkenntnis während Zazen. In meinem Verständnis geschieht die Person unabhängig von dem was ich bin. Das was ich bin identifiziert sich mit der Person (vielleicht um Erfahrung zu machen, Kontrast zu spüren... was weiß denn ich?), aber das was ich bin muss keine Ebene verlassen oder wieder zurück kehren etc. da es immer das ist, was es ist. Letztendlich kann sogar die Identifikation oder das hin- und her switchen zwischen absoluter und relativer Ebene beobachten werden. Von welchem letztendlich Punkt findet Wahrnehmung statt?
Du hattest gefragt, wie ich bei diesem Experiment mit dem "Auf den Fuß treten" reagieren würde. Ich möchte das Level dieses Experimentes auf die Spitze treiben:
Wie würde ich oder ein vollerleuchteter Irgendwas reagieren, wenn ich gefoltert werden würde oder wüsste, dass eine meiner Töchter vergewaltigt worden ist? Würde ich da sagen "Hey, kein Problem! Ist ja alles die Wahrheit des Seins und ich erfreue mich an dieser Tragödie und Komödie!"? Natürlich nicht! Vermutlich wäre da Wut, Ohnmacht, abgrundtiefer Hass... Doch vielleicht, und ich hoffe es sehr, wäre da auch der Satz des Dalai Lama irgendwo im Hinterkopf, der mir Trost und Hoffnung spenden würde.
Und ich bin davon überzeugt Buddha himself und die Erwachtesten der Erwachten würden wimmern und schreien wie ein Kind, wenn das Körper-Geist-System gefoltert werden würde. Doch all das widerspricht nicht der Wahrnehmung, dass dieses Gefühl von Sein oder "Ich bin", unabhängig vom Körper-Geist-System da ist. Oder anders ausgedrückt: In all der Veränderung dieser Person Thorsten Schäffer, ist das Gefühl zu sein als dieses "Ich bin" die einzige Konstante. Die Frage ist, als was bin ich?
Ich habe mir gestern deinen Vortrag im +punkt Heidelberg bezogen auf die Frage "Wer bin ich?" angesehen. Im Grunde decken sich unsere Erfahrungen und Ansichten. Deine grundsätzliche Frage war ja: "Warum gibt es viele verschiedene Bewusstseine und warum ist das das Gefühl, dass ich nur dieses eine Bewusstsein bin?"
Wenn ich mich recht erinnere hat Buddha auf solche metaphysischen Fragen nie geantwortet. In meinem Verständnis kommt jede Frage aus dem Ego-Verstand und ist somit nichts anderes als der Versuch des Ego, uns in der Identifikation "gefangen" zu halten. Insbesondere die Warum-Fragen!
Was ich auf Grund eigener Erfahrung an andere Menschen weitergebe ist einfach:
Wonach suchen wir in Wahrheit im Leben? In letzter Instanz nach etwas, dass am ehesten mit den Worten Liebe, Frieden und Freude bezeichnet werden kann. Wir glauben diesen tiefen inneren Frieden verloren zu haben, weil wir uns mit den oberflächlichen Wünschen, Ideen und Vorstellungen des Ego-Verstandes identifizieren. Und so suchen und suchen wir im Außen, statt einfach alle oberflächlichen Wünsche, Ideen, Konzepte und Vorstellungen für einen Augenblick fallen zu lassen. Wenn wir die Wurzel, also die Identifikation mit dem Körper-Geist-System fallen lassen können. kann Erkenntnis geschehen, dass alles wonach ich suchte bereits hier ist!
Und ja, in Wahrheit führt die Wahrheit des Seins gerade Selbstgespräche. (Ha Ha Ha) Das Selbst spricht mit sich Selbst, so wie im Traum, wenn du dich mit einer scheinbaren anderen Person unterhältst oder ein Gespräch zwischen zwei Personen träumst. Letztendlich ist es dein Traum und alles was in diesem Traum auftaucht und geschieht bist letztendlich du.
Laber, laber, Rababer! Letztendlich lässt es sich wohl nicht durch Worte erklären oder mitteilen. Aber ich hoffe du genießt diesen Austausch hier mit mir genauso wie ich.
Vielen Dank für diese Gelegenheit und deine Offenheit und Ehrlichkeit!
Muho: Vielen Dank
Thorsten: Ich danke Dir!