Zeitlose Neugier: Zen und Zukunft - Fragen an einen Zen-Mönch

Anja Kirig ist seit 2005 freiberuflich als Zukunfts- und Trendforscherin tätig – eng mit der Zukunftsinstitut GmbH Frankfurt/Wien verbunden. Sie arbeitet mit der Methodik der Megatrends und den sich daraus ableitenden soziokulturellen Entwicklungen.

Als Sozialwissenschaftlerin (Dipl.-Pol) beobachtet sie kontinuierlich gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Schwerpunkte bilden dabei die Bereiche Sport und Tourismus sowie Gesundheit, Nachhaltigkeit und Post-Individualisierung. Für ihr aktuelles Projekt „Zeitlose Neugier“ interviewte sie den Zen-Mönch Thorsten Heisan Schäffer, der als Familienvater mitten im Alltag den Weg des Mönchs praktiziert. Was das bedeutet und wie ein Zen-Mönch mit dem Thema Zukunft umgeht, lesen sie in diesem Interview:

 

Frage: Passen Zen und Neugier auf Zukunft überhaupt zusammen?

 

Die Frage lässt vermuten, dass mit Zen eine bestimmte Vorstellung, also ein Konzept oder eine Idee, verbunden ist, die da sagt: „Zen ist hier und jetzt und hat nichts mit der Zukunft zu tun.“ Doch Zen ist keine Idee oder gedankliche Vorstellung. Zen ist vielmehr die zeitlose Neugier auf Wahrheit. Heute genauso  wie vor 2.500 Jahren in Indien, als Buddha selbst unter dem Bodhibaum saß und nach Wahrheit suchte. Wahrheit in der Form, dass sie als unvergänglich und ohne andere Bedingungen aus sich selbst heraus existierend bezeichnet werden kann. „Was ist das?“ rufen uns die alten Meister entgegen. „Was ist dieser unvergängliche und aus sich selbst heraus existierende Geist, neben dem nichts anderes existiert?“
Der Tenzo – der Koch in einem Zen-Kloster oder auf Sesshin – könnte nicht einmal die richtige Menge Gemüse kaufen, wenn er nicht an die Zukunft und die Anzahl der Teilnehmer der zukünftigen Veranstaltung denken würde. Zen schließt die Vorstellung von Zukunft also nicht aus. Zen bedeutet die Neugier auf Zukunft zu benutzen, um im gegenwärtigen Augenblick auf die richtige Weise zu handeln. Für viele Menschen bedeutet Zukunft oft Angst davor, dass etwas passiert, das sie ablehnen oder befürchten. Oder Zukunft bedeutet Stress, dadurch, dass das eigene Leben von Terminen und Arbeitsdruck getrieben ist. Erkennen wir jedoch, dass „Zukunft“ nur ein gedachtes Konzept ist, hilft uns dies in der Gegenwart zu agieren. „Zukunft“ verliert dann die Macht über uns. Wir benötigen dieses Konzept, diese Vorstellung der gedachten Zukunft, um hier und jetzt handeln zu können. Dabei sollten wir nie vergessen, was Zukunft in Wahrheit ist: eine Idee, ein gedankliches Konzept im Bewusstsein. Leben geschieht immer im Augenblick, hier und jetzt. Neugier auf Zukunft geschieht immer im Augenblick, hier und jetzt.

 

Frage: Was hilft Dir dabei, die Achtsamkeit im Hier und Jetzt zu praktizieren und dabei neugierig, verantwortungsvoll, handelnd das Später zu gestalten?

 

Ethik und Mitgefühl sind zentrale Themen im Zen wie im Buddhismus allgemein. Sie lassen uns verantwortungsvoll handeln, um gute Bedingungen für uns und andere zu schaffen. Jeder Augenblick ist eine Einladung, achtsam zu sein. Jeder Augenblick ist eine Einladung, wach zu bleiben, wahrzunehmen und sich selbst des persönlichen Bewusstseins bewusst zu werden. Statt sich von den Gedanken oder Gefühlen wie von einem Fluss mitreißen zu lassen, sitzen wir am Ufer und schauen dem Spiel der Wellen zu.

Mit Achtsamkeit verbinde ich nicht diesen modernen New Age Begriff, der andeutet, dass wir besonders langsam oder bewusst irgendetwas machen sollen. Achtsam sein bedeutet, völlig präsent in diesem Augenblick zu sein. Präsent, als das was wir sind, während neugieriges oder verantwortungsvolles Handeln geschieht. Was auch immer passiert, welche Handlung geschieht – in diesem Augenblick jetzt z. B. das Tippen der Finger auf der Tastatur – bin ich mir dessen bewusst. Ich sehe wie Gedanken im Bewusstsein auftauchen und durch die Finger und die Tastatur Ausdruck in Worten und Sätzen finden. Das ist Achtsamkeit. Es bedarf keiner Mühe oder Anstrengung achtsam zu sein. Ich praktiziere keine Achtsamkeit in Form eines Tuns. Aber während Tun und Handlung von Augenblick zu Augenblick geschehen, bin ich die Achtsamkeit selbst, die all das wahrnimmt.

 

Frage: Welche Verantwortung hat man als Zen-Schüler:in oder -Lehrer:in der Zukunft gegenüber?

 

Wie bereits erwähnt, sind Ethik und Mitgefühl wesentliche Bestandteile des Zen. Dabei kommen diese Empfindungen nicht durch Gebote oder Auflagen von außen, sondern entstehen ganz natürlich aus der Erfahrung und dem Erkennen unserer wahren menschlichen Natur.

Diese Natur ist wechselseitige Abhängigkeit. Wir können erkennen und erfahren, dass nichts in dieser bedingten Welt des Daseins aus sich selbst heraus existiert. Als Mensch bin ich völlig verbunden mit allem was mich umgibt. Ich bin abhängig von Nahrung, Wärme, Zuneigung, Kontakt mit anderen. Dieser Körper und dieser Geist hier, sind in ständiger Interaktion mit dem gesamten Leben und, bedingt durch Ursachen, die wiederum ursächlich bedingt sind, mit dem gesamten Universum. Aus dieser durchdringenden Erkenntnis heraus, der multidimensionalen Verkettung von Ursache und Wirkung, werden wir uns der Verantwortung für uns selbst und anderen gegenüber erst wirklich bewusst. Die Frage im Zen ist daher nicht wie erleuchtet oder erwacht eine Person ist, sondern ob ihr Handeln in der Welt einen erleuchteten Geist zur Grundlage hat. Im Gegensatz zu anderen spirituellen Schulen, zieht man sich im Zen nicht in eine Höhle zurück oder kehrt sich von der Welt ab. Wir praktizieren mitten in der Welt, mitten im stinknormalen Alltag, und sind uns der Verantwortung unseres Handelns für alle Wesen in jedem Augenblick bewusst. Natürlich ist das die Idealvorstellung. Das Ideal des Bodhisattva, an dem wir uns orientieren. Dieses Ideal bietet Leitplanken für ein glückliches und zufriedenes Leben im gegenwärtigen Moment.

 

Frage: Gibt es so etwas wie Vergangenheit und Zukunft überhaupt im Zen?

 

Ja und Nein. Wenn wir genau hinsehen, sind Vergangenheit und Zukunft nur Ideen und Vorstellungen unseres Bewusstseins. Aus diesem Erkennen heraus gibt es Vergangenheit und Zukunft nicht. Nicht in der Form von etwas Realem oder Greifbarem. Du kannst mir deine Zukunft nicht zeigen oder sie mir in die Hand legen. Und du kannst mir die Vergangenheit nicht geben oder sie mich anfassen lassen. Deutest du auf ein verwelktes Blatt mit den Worten „Das war vorher grün.“ Macht du das immer in der Gegenwart. „Das grüne Blatt.“ ist in diesem Augenblick nicht wirklich, sondern nur eine Idee, eine Vorstellung in Deinem Kopf. In diesem Sinne gibt es Vergangenheit und Zukunft nicht, weder im Zen noch sonst irgendwo.

Angenommen unser Gehirn hätte nicht die Fähigkeit zu erinnern oder sich etwas vorzustellen, dann wäre jeder Moment ein ewiger Augenblick des Jetzt. Jetzt und jetzt und jetzt… Doch wären wir dann selbstverständlich nicht lebensfähig. Das Leben wäre wie eingefroren und statisch. Wir benötigen das Konzept von Zeit, die Idee von Vergangenheit und Zukunft, um uns in dieser Welt zurecht zu finden. Doch erkennen wir, dass Zeit nur ein Konzept ist, hat das eine befreiende Wirkung auf unser Leben als Mensch. Dieses Erkennen darf nicht intellektuell verstanden werden. Es ist ein durchdringendes Erfahren der Wirklichkeit wie sie ist. Erfahren wir, dass Zeit nur ein Konzept ist, hat das Auswirkung auf uns und die Art und Weise, wie wir leben. Wir bedauern weniger das erinnerte Gestern und fürchten uns weniger vor einem vorgestellten Morgen, da wir erkennen, dass beides in diesem Augenblick nicht real ist. Und doch benötigen wir das Konzept von Zeit, um miteinander zu agieren und zu kommunizieren. Beides ist also wichtig.

 

Frage: Ich habe vier Zustände definiert, aus denen sich Menschen Zukunft hinwenden

- hochmotiviert, aber verloren in zu viel Informationen und Ideen

- hochmotiviert, aber inspirationslos

- demotiviert und überfordert von all den Aufgaben

- demotiviert und leer

Welche Ansätze aus dem Zen gibt es, die dieses Erleben transformieren und eine Person "zukunftsorientiert" werden lassen.

 

Ich weiß gar nicht ob es erstrebenswert ist, eine „zukunftsorientierte“ Person zu werden. Viel sinnvoller würde ich es erachten, wenn wir als Mensch „gegenwärtiger“ oder „gegenwartsorientierter“ sind. Genau da setzt Zen an. Hier und jetzt können wir Probleme lösen, einander begegnen und uns selbst, der Umwelt und den Wesen wirklich helfen. Benötigen wir dazu ein zukunftsorientiertes Bewusstsein? Um hier und jetzt auf die richtige Weise zu handeln, müssen wir uns wohl auch der Auswirkungen unseres Handelns bewusst sein. Das ist offensichtlich. Doch wenn wir gedanklich zu sehr in der Zukunft sind, verpassen wir den gegenwärtigen Augenblick und können nichts verändern. Wir benötigen also beides, um das in der Frage beschriebene Erleben zu transformieren. Wir lernen aus den Fehlern der erinnerten Vergangenheit und lassen uns von der vorgestellten Zukunft motivieren. Unser Handeln findet aber immer im Hier und Jetzt statt. Zu hohe Motivation kommt oft daher, dass wir zu sehr in der gedachten Zukunft leben und nicht gegenwärtig genug sind. Eine Demotivation entspringt der gedachten Vergangenheit, in der wir etwas tun wollten und nicht konnten oder etwas getan haben, was wir lieber ungeschehen machen würden. Zen reicht uns die Hand und sagt: Komm in diesen Augenblick und gestalte Leben vom Blickwinkel einer weiteren Dimension deines Daseins aus. Genau das ist der Ansatz von Zen. Immer hier und jetzt.

 

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