Stufen der Meditation nach Heisan

Bevor wir uns den einzelnen Stufen widmen sei gesagt, dass die letztendlich höchste Erkenntnis nichts ist, dass sich mit Stufen erreichen lässt. Wann immer von einem allmählichen Weg gesprochen wird, so ist dies immer nur Hilfsmittel für jene, die in der Täuschung und Identifizierung gefangen sind. Aus Blickwinkel der phänomenalen Wirklichkeit (Shiki), in der die Dinge getrennt zu sein scheinen, gibt es ein Davor und Danach. Aus dem Blickwinkel der Leerheit (Ku) ist alles ein großes organisches Ganzes, dass durch mannigfaltige mehrdimensionale Ursache-Wirkungs-Mechanismen existiert. Die Vorstellung eines Davor und Danach existiert nur durch die Fähigkeit des menschlichen Verstandes sich eine Vergangenheit vorzustellen, zu erinnern, oder eine gedachte Zukunft für wahr zu halten, zu imaginieren. Doch in Wirklichkeit ist nicht einmal der gegenwärtige Augenblick greifbar, wieviel weniger könnte dann eine Illusion, ein gedankliches Konstrukt, ein Bild über Vergangenheit und Zukunft real sein? Und dennoch kann die Einteilung in verschiedene Stufe ein Hilfsmittel sein, für all jene die nach Wahrheit suchen, um den Weg zu praktizieren, für andere da zu sein und Nutzen für die Welt zu schaffen. So ist der Zen-Weg weder plötzlich noch allmählich, kein Weg der Stufen und auch kein plötzliches Ereignis in Raum und Zeit. Doch kann er im Plötzlichen Durchbruch und allmählichen Voranschreiten zum Ausdruck kommen.

 

1. Stufe: Beruhigung (innere Ruhe und äußere Haltung erlernen)

 

Frucht der Übung: Innere Ruhe – Überwindung von Hindernissen wie Gedankenraserei, innerer Unruhe und karmischen Impulsen durch verdrängte Anteile oder Lebenserfahrungen, Auflösung von Karma (in Form von Prägungen der Vergangenheit), Geschmeidigkeit von Körper und Geist können im Laufe der Zeit erfahren werden.

 

2. Stufe: Konzentration (z. B. durch die Übung des Atemzählens)

Frucht der Übung: Fokussierung – Realisierung von Einspitzigkeit (sanskrit: Ekagrata) des mentalen Fokus, erste Erkenntnis über die Aktivität des Verstandes, der immer wieder ablenkt und in zukünftige Vorstellungen oder vergangene Erinnerungen zieht. Das Hilfsmittel des Atemzählens, eines Mantra oder Koan wird immer wieder neu aufgenommen, wenn Ablenkung geschehen ist.

 

3. Stufe: Achtsamkeit (präsent sein für innere und äußere Phänomene)

Frucht der Übung: Präsenz – Achtsames Verweilen ohne Hilfsmittel wie Atemzählen o.ä., Erfahrung von Aufmerksamkeitssteuerung (Vipassana), unbeteiligter Zeuge von Gedanken, Gefühlen und anderer innerer Phänomene ohne Ablenkung oder Verlassen der Position des Zeugen, Klarheit und Freude können als Ausdruck dieser Stufe auftreten.

 

4. Stufe: Loslassen (über jegliche Anstrengung hinaus gehen)

 

Frucht der Übung: Gleichmut – Natürlicher Übergang von Konzentration/Achtsamkeit (sankrit: Dharana) zu Meditation (sanskrit: Dhyana), alle Anstrengung und alle Hilfsmittel können losgelassen werden, innere Phänomene wie Gedanken oder Erinnerungen treten noch auf, aber das Bewusstsein ist wie ein ununterbrochener Fluss.

 

5. Stufe: Versenkung (über alles wahrnehmbare hinaus gehen)

Frucht der Übung: Tiefe – Praxis des Mantras am Ende des Herz-Sutra (über das darüber hinaus hinaus gehen...), Erfahrung von Versenkung (sanskrit: Samadhi) in das Bewusstsein selbst, über den Zeugen hinausgehen; Solange auch nur das Geringste über den Zeugen/Beobachter ausgesagt werden kann, gibt es noch eine tiefere Instanz von Beobachtung, die letztendlich selbst nicht beobachtet werden kann.

 

6. Stufe: Gewahrsein (mühelose unpersonifizierte Beobachtung)

 

Frucht der Übung: Freude, Frieden und Liebe – Erfahrung von unbedingter, nicht von Ursachen abhängiger, stiller und unpersönlicher Empfindung von Freude, Frieden und Liebe, letzte unpersönliche, nicht beschreibbare Instanz reines Gewahrseins, Praxis von "Nur Sitzen" (jap. Shikantaza) ohne das Geringste zu tun, reine Präsenz, der eine Geist, stiller Beobachter, der selbst nicht beobachtet oder wahrgenommen werden kann. Die Illusion eines Subjekts, in Form reinen Gewahrseins, und eines Objektes, in Form des persönlichen Bewusstseins das beobachtet werden kann, existiert noch immer und damit ein letztes Empfinden von Dualität.

 

7. Stufe: Verlöschen (keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt)

 

Frucht der Übung: Nicht-Zwei – Hier lässt sich im klassischen Sinne nicht mehr von Übung sprechen, da diese Erfahrung nur ein geschehen lassen, völlige Hingabe und Erfahrung von Gnade darstellt. Alle Dualität zwischen Subjekt und Objekt, Täuschung und Illusion, Verblendung und Erleuchtung, Sein und Nicht-Sein werden hier aufgehoben und irrelevant, die Erfahrung ist unbewusst, dem Verstand nicht zugänglich, alles durchdringend, das eine, neben dem nichts anderes existiert: Nirvana! Von Einheit zu sprechen wäre noch immer dualistisch, da die Einheit als Gegenstück die Vielheit voraussetzt. Daher ist es Nicht-Zwei. Was es ist, kann jedoch nicht ausgesagt werden.

Es ist das letztendliche mystische Geheimnis, das in keiner Weise erklärt, erfahren oder beschrieben werden kann. Es ist Erfahrung ohne ein Subjekt das erfährt, dass nur diese Erfahrung, neben der nichts anders existiert, letztlich wahr ist, da unvergänglich und ewig sowie das Gegenteil von beidem umfassend. Jenseits von Geburt und Tod, von Subjekt und Objekt und jeglicher Ideen von Täuschung und Erleuchtung, ist es unbeschreibliches Sosein (sanskrit: Tathata).

So wie Träumer, Traum und Trauminhalte letztendlich nicht getrennt sind, egal wie viele verschiedene Inhalte, Personen oder Situationen im Traum auftauchen, so ist doch alles immer nur der eine Träumer. Und schon diese Andeutungen sind im höchsten Maß übertrieben und völlig deplatziert. Sprechen lässt sich darüber nicht. Niemand hat bisher darüber gesprochen, weil niemand dazu fähig ist. Im Augenblick der Erfahrung gibt es keinen Erfahrenden mehr, der die Erfahrung wahrnimmt oder beobachtet. Es ist völlig unbewusst. Selbst zu sagen, dass es nicht in Worten ausgedrückt werden kann, ist schon Zuviel an Worten und Erklärungen. Es bleibt letztendlich ein offenes Geheimnis.

 

Rückkehr zum Marktplatz mit leeren Händen

 

Ausgehend von diesem Punkt jedoch, folgt die Rückkehr in die Welt und Dualität. In dem Wissen um die tiefe unaussprechliche Wahrheit, im Erkennen der eigenen Unsterblichkeit und weiten Dimension unseres Daseins, ist unser vermeintliches Ego verwandelt. Gier nach dem Werden, nach Ruhm und Macht oder Liebe, Frieden und Freude, weichen einem tiefen Mitgefühl und Solidarität mit allen Wesen. Das Bedürfnis anderen zu nutzen, nicht in Form eines neurotischen Helfersyndroms, sondern durch tiefe Selbsterkenntnis, lässt uns in der Welt wirken ohne das Gefühl zu haben irgendetwas zu tun. Es ist die Erlaubnis des geschehen Lassens, sich selbst als Werkzeug des Lebens betrachtend ist jeder Augenblick neu und frisch. Vergessen ist die Anstrengung auf dem Weg oder die Suche nach irgendwas, egal wie Heilig es auch sein mag. Anderen zu nutzen ohne etwas zu erwarten wird zum höchsten Ideal. Andere zu unterstützen, diesen Weg zu gehen, wird zum natürlich Ausdruck unseres Menschseins.

 

Angekommen an diesem Punkt erfahren wir die Worte des Gyohatsû nenju erstmals auf eine tiefe und befreiende Weise: „Mögen wir in dieser Welt der Leerheit mit der Reinheit eines Lotus im schmutzigen Wasser leben. Nichts übertrifft den unbegrenzten Geist. So verneigen wir uns vor dem Buddha in uns.“