Der nächste Abschnitt dieses Textes lautet: “Sariputra, die Erscheinungen sind nicht verschieden von Leerheit, und Leerheit ist nicht verschieden von den Erscheinungen. Die Erscheinungen sind Leerheit und Leerheit ist Erscheinung, und auch Empfindung, Wahrnehmung, Denken und Bewusstsein sind Erscheinung.”
Im Gegensatz zu Avalokiteshvara, ist die Existenz Sariputras, der einer der beiden Hauptschüler Buddhas war, geschichtlich belegt. Sariputra wurde, auf Grund seines herausragenden Verstandes und seiner intellektuellen Fähigkeiten sowohl vom Buddha selbst, als auch von den anderen Schülern, sehr geschätzt. So verkörpert Avalokiteshvara im Hannya Shingyo das Mitgefühl und Sariputra den Verstand oder Intellekt. Jede spirituelle Reise ist immer auch eine Reise vom Kopf zum Herzen bzw. zum Bauch. Oder anders ausgedrückt vom Denken zur Intuition und vom Wissen zur Weisheit!
Das oben genannte Wort „Erscheinungen“ wird oft auch als Phänomene, Formen oder Körper übersetzt. Es handelt sich dabei um alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge die auftauchen und wieder verschwinden. Eben um alle Erscheinungen, die wahrgenommen werden können. In diesem Textabschnitt sagt Avalokiteshvara, als die Manifestation des Mitgefühls und der Weisheit, zu Sariputra, also dem denkenden Verstand, dass all diese Erscheinungen ihrem Wesen nach nur Leerheit sind. Gleichzeitig ist die Leerheit aber auch alle Erscheinungen. Es ist wie mit einem Blatt Papier: Ohne die Vorderseite kann die Rückseite nicht existieren. Ohne die Wasseroberfläche gibt es keine Tiefe.
Was aber ist die Leerheit, die selbst von vielen Buddhisten als Nichts verstanden wird? Bei dem Begriff der Leerheit handelt es sich um ein universelles Prinzip, dass durch die regelmäßige Praxis der stillen Meditation erfahren und tief verinnerlicht werden kann. Es ist das Prinzip des Entstehens in wechselseitiger Abhängigkeit, dass alle Erscheinungen entstehen und vergehen lässt. Es ist das Gesetz von Ursache und Wirkung. Alle Dinge erscheinen auf Grund der Ursache von anderen Dingen, die wiederum nicht aus sich selbst heraus entstanden sind. Nichts in diesem Universum entsteht aus sich selbst heraus. Leerheit bedeutet zum Beispiel, das Feuer nicht existieren kann ohne Sauerstoff und einen Brennstoff wie Holz. Jedoch entstehen Sauerstoff und Holz ebenfalls nicht aus sich selbst heraus. Holz benötigt einen Baum. Ein Baum benötigt Regen, Sonnenschein und einen guten Nährboden. Es benötigt Arbeiter, die den Baum fällen. Vielleicht benötigt es Transportmittel um das Holz zu transportieren. Wenn wir die Dinge auf diese Weise sehen und wahrnehmen, können wir das gesamte Universum in einem einzigen Regentropfen erkennen! Anstatt dieses Prinzip durch das Wort „Leerheit“ zu substantivieren, sollte man eher davon sprechen, dass die Dinge leer von Eigenexistenz sind. Sie sind leer von einem aus sich selbst heraus existierendem Sein. Und somit sind alle Erscheinungen Leerheit und die Leerheit gleichzeitig alle Erscheinungen.
Dieses universelle Prinzip trifft aber nicht nur auf die Erscheinungen im Außen zu. Wenn wir uns selbst genau betrachten und in der Meditation hinterfragen, was wir den eigentlich meinen, wenn wir von einem „ich“ sprechen, werden wir feststellen, dass auch Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Bewusstsein im ständigen Wandel und leer von unabhängiger Existenz sind. In diesem Sinne gibt es kein „ich“, das aus sich selbst heraus und unabhängig von allem anderen existiert. Das ist die größte Weisheit und gleichzeitig die Einfachheit im transformieren allen Leidens!
Aus dem Buch „Der Geschmack des Schattens einer Pflaume“
Erhältlich bei Amazon, hier klicken: http://amzn.to/2bbhOF6