Hannya Shingyo Teil 1

 „Der Bodhisattva des großen Mitgefühls übt sich tief und gründlich in der höchsten Weisheit und versteht so, dass der Körper sowie alle Erscheinungen nur Leerheit sind und durch diese Erkenntnis befreit er sich von allem Leiden.“

 

Der Bodhisattva des großen Mitgefühls ist Avalokiteshvara. Bodhisattvas repräsentieren in der indischen, chinesischen bzw. japanischen Zen-Mythologie Wesen, die bestimmte menschliche Fähigkeiten zur Vollkommenheit entwickelt haben. Avalokiteshvara steht für die Fähigkeit des Mitgefühls mit allen Wesen, unabhängig Ihrer Herkunft, Ihres Standes oder Ihrer Lebensart. Im ersten Satz dieses Sutras wird im Grunde das gesamte Sutra erklärt: übe Dich tief in der höchsten Weisheit, dem einfachen “Im-Augenblick-Sein”, ohne Dich von den Erscheinungen wie zum Beispiel den Gedanken mitreißen zu lassen. Sei ganz präsent im Augenblick hier und jetzt, egal ob Du sitzt, gehst oder stehst, bei all Deinen Tätigkeiten.

 

Durch dieses Üben kannst Du erkennen, dass alles unablässig und ganz von allein auftaucht und verschwindet. Gedanken, Gefühle, Wahrnehmung, Bewusstsein und sogar der Körper, sind von einem höheren Blickwinkel aus betrachtet, lediglich Erscheinungen im Augenblick. Sie tauchen auf und verschwinden unablässig, je nachdem mit welchem zeitlichen Rahmen sie betrachtet werden. Selbst ein massiver Berg ist ständig in Bewegung und in Veränderung, auch wenn wir dies nicht deutlich wahrnehmen. Der erste Satz dieses Sutras ergänzt auch sofort, was all diesen Veränderungen zu Grunde liegt.

 

Durch die Leerheit allen Seins, das heißt leer von Eigenexistenz und nur durch das Entstehen in wechselseitiger Abhängigkeit existierend, ist alles ständig im Fluss der Veränderung. Im einen Moment noch da, ist es im nächsten Moment schon vorbei, wenn wir es geschehen lassen, ohne an den Erscheinungen, wie zum Beispiel den Gedanken oder Gefühlen, festzuhalten. Aber gerade dieses Festhalten und die Identifikation mit vergänglichem lässt uns leiden. Doch genau durch diese Erfahrung befreit sich der Bodhisattva von allem Leiden. Denn jeder Mensch kann zu folgender Wahrheit erwachen:

 

Es gibt Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen, Bewusstsein und die Erscheinung des Körpers, aber es gibt kein aus sich selbst heraus existierendes “Ich” in diesen Phänomenen. Die Vorstellung eines unabhängig existierenden “Ichs” ist nur ein weiterer Gedanken, ein weiteres Gefühl, eine Täuschung und Illusion, die wir in der Meditation als unbeteiligter Beobachter wahrnehmen können.

 

Aus dem Buch „Der Geschmack des Schattens einer Pflaume“

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